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Velokurierladen: die wilden* Kerle von Bern

In der Schweiz gibt es nicht nur schöne Landschaften, feine Schokolade und prima Radwege – hier gibt es auch famose Veloshops.

Einen unserer Schweizer Händleroriginale, den »Velokurierladen«, hatten wir auf der Rückfahrt aus dem Italien-Urlaub in Bern besucht.

Inzwischen ist der Velokurierladen, wie er hier zu sehen ist, Geschichte. Denn der Laden musste ein paar Ecken weiter ziehen. Auch in der Schweiz sind Hauseigentümer und Investoren in erster Linie an einer hohen Miete und weniger an einer vitalen Quartierdurchmischung interessiert. Glück im Unglück oder typisch für den Velokurierladen: Die Stadt Bern stellt für eine angemessene Monatsmiete ein Grundstück, temporäre Architektur samt Auf- und Abbau zur Verfügung – cool, oder?

Auch Umwege führen zum Ziel

Ungewöhnlich ist allein schon die Entstehungsgeschichte. Denn der »Velokurierladen« ist aus der seit 1988 bestehenden Firma Velokurier Bern entstanden. In der Geschäftsstelle des hiesigen Fahrradkurierdiensts hat Michel Tobler, neben dem Job als Fahrradkurier, angefangen zu schrauben. Und zwar das extrem strapazierte Material seiner Kurierkollegen – quasi eine Hardcore-Fahrradmechanikerausbildung.

Bald schon erweiterte sich der Kundenkreis, denn die magischen Hände, der Einfallsreichtum und die Kreativität beim Lösen von Problemen sprach sich schnell herum. Mit Philipp Hardorn kam dann ein nicht minder anspruchsvoller Partner dazu und kurz danach (1997/1998) kreuzten sich die Wege von Velokurierladen und Velotraum in Friedrichshafen auf der Eurobike das erste Mal.

Anfangs waren die Schweizer sehr, sehr anstrengende Geschäftspartner, weil ungemein anspruchsvoll und so genau… Mit den Jahren haben wir die Qualität dieser Wünsche, die zudem immer sehr konstruktiv geäußert wurden, sehr zu schätzen gelernt und es ist eine wunderbar partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehung entstanden.

Ein außergewöhnliches Team von lauter schrägen Vögeln

Ein gutes Team bewährt sich speziell in Krisen. Eine besonders tragische und traurige Bewährungsprobe in der Velokurierladen-Geschichte war der unvorstellbare und unvermittelte Tod von Philipp Hardorn im August 2009. Ein großer Schmerz bei allen, die ihn kannten und schwer vorstellbar wie der Velokurier-Laden diesen Verlust verkraften sollte. Was dann geschah, war selbst für große Optimisten fast unvorstellbar und ein Lehrstück für exzellenten Teamgeist. Jeder im bunt zusammen gewürfelten Team, bestehend aus Eric, Stephan, Jonas, Splint, Röfe, Mario, Nataly und Mischu übernahm nun weitere Aufgaben und Verantwortungen, auch Dinge, die er zuvor noch nicht gemacht hatte, und zusammen meisterten sie diesen Schicksalsschlag. Nicht nur emotional, sondern auch betriebswirtschaftlich.

Pars pro toto oder Leidenschaft für »handgemachte« Individualität

»Ein Teil [steht] für das Ganze.« Der Velokurierladen ist kein geschleckter und cooler Design-Shop, sondern ein Ort für besondere Fahrradqualität. Auf den ersten Blick unterscheiden sich Ladengeschäft und Werkstatt daher kaum von anderen Szene- und Quartierläden, die ein reduziertes und ausgesuchtes Sortiment haben.

Der Unterschied findet sich in den Details. Hier zeigt sich beispielhaft die virtuose Liebe zu pfiffigen Lösungen und eine handwerkliche Kreativität und Sorgfalt, die ausgesprochen selten ist. Wo man geht und steht, trifft man auf liebevolle und charmante Fingerübungen, sei es im Verkaufsbereich oder in den Werkstätten. Die Werkstätten nehmen übrigens die gleiche Fläche ein wie der Verkaufsbereich.

Auch dies ein klares und bewusstes Statement, nicht nur Räder auf hohem Niveau dem Kunden anzupassen und zu verkaufen, sondern auch das Handwerkliche, die Montage, Wartung und Reparatur von Rädern auf die gleiche Wichtigkeitsstufe zu stellen. Für Michel Tobler sind Reparaturen selbst von aussichtslosen Kandidaten nichts anderes als »eine Herausforderung meiner Kreativität«.

Im Velokurierladen überlässt man wenig dem Zufall und gibt sich sehr ungern mit dem Status quo zufrieden. Ob passende Betriebssoftware (Filemaker), Warenpräsentation, Reparaturformulare, Auftragsbuch oder Montageständer. Überall finden sich maßgeschneiderte und selbst gemachte Lösungen. Von daher wundert es inzwischen wenig, dass Velotraum im Velokurierladen zur wichtigsten Kernmarke wurde und die wilden Berner, der mit Abstand erfolgreichste Velotraum-Händler ist.

Auf unserem kleinen Streifzug durch das prächtige Bern entdeckten wir noch eine bunte Szene an interessanten, originellen und skurrilen kleinen Betrieben, Manufakturen, Ateliers und Ladengeschäften, die – ähnlich wie der Velokurierladen – so gar nicht zu dem Bild von der gediegenen, aber etwas langweiligen und sehr konservativen Schweiz passen wollten. Nix da von wegen ewiges »Heidiland«, sondern bunt, schräg ein wenig anarchisch und subversiv zuweilen und lebendig – einfach prima.

(*) Als wir dem Velokurierladen kurz nach unserem Besuch das Gruppenbild mit dem augenzwinkernden Kommentar zuschickten, »sie müssten wohl mal wieder zum Friseur, denn sie sähen ganz schön wild auf dem Foto aus«, kam prompt die Antwort, »wir sehen nicht nur wild aus, wir sind auch wild«.

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